Darf ein Protagonist feige sein?
Meiner Lektorin wurde meine Hauptperson zunehmend unsympathisch. Das darf ja sein, sagte ich mir. Aber als sie dann anfing, sie zu werten und als egozentrisch, als naiv, als feige abzukanzeln, da dachte ich :Mädchen, so ist er aber. Genau so ist er und wenn du ihn ständig rumkommandieren willst, dann lass das Buch einfach Buch sein und such dir wen anderes zum meckern.
Darf ein Protagonist nicht feige sein, darf er keine Schwächen zeigen, ist es nicht erlaubt, ihn in seinen Widersprüchen vorzuführen? Ein, zweimal hätte sie ihren Unmut über meine Figur äußern können, dann hätte ich gewusst: aha, man sieht es, dass er feige … ist. Aber so entstand für mich der ständige Druck, diese Figur anders zu gestalten, sie bewundernswert zu beschreiben, sie keine dummen oder eitlen Fehler machen zu lassen….
Im ersten Moment habe ich gedacht: Da will mich jemand auf Herz-Schmerz-Literatur trimmen, wo es nur Schwarz und Weiß, Gut und Böse gibt. Aber leider erinnerte mich das an eine Erfahrung, die ich zu meiner Verblüffung vor einiger Zeit im Kreise eines sich selbst als höchst literarisch einschätzenden Literaturzirkels in Berlin machen musste: Einer der Zirkelmitglieder las aus seinem neusten Roman vor. Es ging um die Geschichte eines Mannes, der nach der Scheidung von seiner Frau plötzlich vor der Aufgabe steht, das gemeinsam adoptierte Kind nun allein erziehen zu müssen. Und es wurde in aller Deutlichkeit beschrieben, wie er sich damit herumschlug, manches gut aber noch mehr falsch machte. Als es dann um die – gewollt konstruktive Kritik - durch die er ZuhörerInnen ging, traute ich meinen Ohren nicht. Es wurde dem Vorleser heftig vorgeworfen, dass er hier ein völlig falsches Erziehungsverhalten beschrieben habe, das so nicht stehen bleiben könne. Und es wurden ihm im Detail die nicht so gelungenen Erziehungsmaßnahmen und Verhaltensweisen des beschriebenen Vaters um die Ohren geschlagen. Es sah so aus, als sei es Literatur nicht erlaubt, menschliche Fehler darzustellen, jedenfalls nicht, wenn es um den Protagonisten geht.
Als ich anmerkte, wir wären doch hier in einem Literaturzirkel und nicht in einem Seminar für die gute Erziehung, wurde ich geradezu weggebissen.
Daran musste ich jetzt denken. Ich verstehe ein solches Verständnis von Literatur nicht. Also hätte Heinrich Mann seinen Untertan freundlicher gestalten müssen und als hätte Goethe eigentlich nicht schildern dürfen, dass sein Faust Gretchen einfach im Stich ließ. Wo sind wir denn?